Missstände, Probleme und Gewalterfahrungen in Pflegeheimen in der jüngsten Zeitgeschichte
Im Mai 2022 hat der aus den Medien bekannte Pflegeexperte und -kritiker Claus Fussek seine Akten und Unterlagen dem IGM übergeben, wo sie archivfachlich aufbewahrt werden. Darunter befinden sich ca. 50.000 Zuschriften von Privatpersonen, die über Missstände, Gewalttaten und Probleme in bundesdeutschen Altenheimen von den 1990er Jahren bis ins Jahr 2021 berichten. Dieser umfangreiche Quellenbestand ist aufgrund seiner Größe und seines Zuschnitts einmalig und für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung von großer Relevanz, da er den Stellenwert und die Situation von Pflege innerhalb der deutschen Gesellschaft widerspiegelt. Der Bestand dient als Ausgangspunkt dafür, ein Forschungsprojekt zu Missständen, Problemen und Gewalterfahrungen in Pflegeheimen in der jüngsten Zeitgeschichte zu entwickeln. Eine Analyse von Missständen in der Pflege soll nicht nur die Ursachen aufdecken, sondern auch kritisch nach dem Wert der Pflege in der Gesellschaft fragen. Ziel ist es, im Sinne einer Problemgeschichte der Gegenwart das aktuelle und akute Problem des Pflegenotstands aufzugreifen, es zu kontextualisieren und zu historisieren.
Geschichte von Pflege- und Gesundheitsberufen in BRD und DDR
Seit Jahren wird in der Gesundheitspolitik überlegt, wie die medizinische Versorgung der Bevölkerung angesichts weitreichender gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Veränderungen aufrechterhalten werden kann. Die demografische Entwicklung, die zur Folge hat, dass immer mehr chronisch kranke und multimorbide Menschen medizinisch behandelt werden müssen, verstärkt diese Entwicklung. Insbesondere die Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen an andere Gesundheitsberufe wird von den Verantwortlichen immer wieder diskutiert.
Diese gegenwärtigen Entwicklungen dienen als Ausgangspunkt für eine historische Betrachtung verschiedener Gesundheitsberufe jenseits der Ärzteschaft. Pflegefachpersonen, Hebammen, Physiotherapeuten und Notfallsanitäter tragen maßgeblich zum Funktionieren unseres Gesundheitssystems bei. Ihre Berufsgeschichte ist untrennbar mit der Geschichte der Ärzteschaft verwoben. Mediziner waren seit jeher an gut ausgebildetem Gesundheitspersonal interessiert, jedoch sollte dessen Ausbildung immer in einem engen, meist von der Ärzteschaft vorgegebenen, Rahmen bleiben, damit keine ernsthafte Konkurrenz erwachsen konnte. Die früher häufig verwendete Bezeichnung „Heilhilfsberufe“ zeugt noch von diesem Verständnis.
In dem Projekt wird daher der Frage nachgegangen, wie eine Professionalisierung solcher Gesundheitsberufe in Abhängigkeit einer hierarchisch übergeordneten Profession vonstattengeht. Dreh- und Angelpunkt aller Diskussionen war die Frage, wer letztendlich die Heilkunde ausüben darf. Ein deutsch-deutscher Vergleich soll dabei helfen, auch die strukturelle Rolle des Gesundheitssystems auf Berufsentwicklungen im Gesundheitswesen untersuchen zu können. Im Berichtsjahr konnten Aktenbestände zur beruflichen Entwicklung der Physiotherapie in der DDR eingesehen und ausgewertet werden.
Heilpraktiker im Nationalsozialismus
Mit Inkrafttreten des Heilpraktikergesetzes im Jahr 1939 sollte die Zukunft des Berufes Heilpraktiker besiegelt sein. Zwar erhielten Heilpraktiker durch dieses Gesetz eine staatliche Zulassung, doch wurde die Einrichtung und Unterhaltung von Ausbildungsstätten untersagt. Schon die Zeitgenossen sahen daher das Heilpraktikergesetz zugleich als „Wiege und Grab“ des Berufes. In der Nachkriegszeit wurde das Verbot der Ausbildungseinrichtungen wieder aufgehoben und Heilpraktiker etablierten sich neben der Ärzteschaft als einziger Beruf, der die Heilkunde ausüben durfte. Zwei Fragenkomplexe stehen im Vordergrund: 1) Wie standen die Machthaber im Nationalsozialismus zu der Berufsgruppe der Heilpraktiker? Welche politischen Strategien entwickelten sie im Umgang mit den Heilpraktikern? 2) Wie wurden die politischen Strategien umgesetzt? Wie verhielten sich die Heilpraktiker als Berufsgruppe dazu?